Hamburger Abendblatt, 14.12.2009

Kindererziehung
Das Kleinkind als Tyrann – Wie Ratgeber die Erziehung prägten

Von Annett Klimpel14. Dezember 2009, 02:13 Uhr
Ratgeber, wie ein Kind am besten zu erziehen sei, finden sich in Buchläden zu Hauf. Groß ist oft die elterliche Sorge, bei der frühkindlichen Prägung fatale Fehler zu begehen. Das ist kein neues Phänomen: Seit Jahrzehnten suchen Eltern Rat bei Experten – und bekommen ihn. Wie gruselig und wahnwitzig solche Empfehlungen oft waren, beschreibt Miriam Gebhardt in ihrem Buch „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“.

München. Die Fachjournalistin hat die Geschichte der Kleinkind-Erziehung im 20. Jahrhundert analysiert. Sie hat dafür Standardratgeber und Elterntagebücher aus vier Generationen untersucht, in denen Mütter oder Väter das Miteinander mit ihrem Sprössling beschrieben. Zu den wohlmeinenden Ratschlägen gehörte einst etwa, Säuglinge monatelang möglichst reizarm in einem abgedunkelten Zimmer aufzubewahren. Zärtlichkeiten und Körperkontakt wurden verpönt. Um die Winzlinge zum Durchschlafen zu bringen, galt es als sinnvoll, sie nächtens schreien zu lassen. Das Weinen sei ohnehin nur eine Machtprobe, Emotionen und Empfindungen hätten Babys noch gar nicht, so hieß es.

Was während der Nazi-Zeit in den einschlägigen Werken stand, war dann sogar eher Handlungsanweisung als Ratschlag. Die Mutter wurde angewiesen, sich an Fütterungszeiten zu halten, ihr Kind mit der nötigen Strenge zu erziehen – etwa zum Töpfchengang – und den Nachwuchs nicht mit Zuwendung, Verständnis und Streicheleinheiten zu verzärteln. So entstünden Tyrannen, wurde behauptet. „Ein vernünftig gehaltenes Kind läuft wie ein flinkes blankes Rädchen im Uhrwerk eines wohlgehaltenen Haushaltes mit“, versprach die Autorin eines solchen „Ratgebers“.

Die vorgedruckten Elterntagebücher zu dieser Zeit enthielten Tabellen, in denen die Erfolge bei der Ess-, Toiletten- und Schlaferziehung protokolliert wurden. Da sie mit zu Arztbesuchen genommen wurden, stellten sie ein prima Kontrollinstrument dar. Defizite mütterlicher Kompetenz wurden auch von den Ratgeberautoren massiv herbeigeredet.

Negativ – aus heutiger Sicht – tat sich während der NS-Zeit und in den Jahren danach vor allem eine „Expertin“ hervor: Johanna Haarer mit Werken wie „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Sie empfahl etwa ausdrücklich den Laufstall als Barriere zwischen Mutter und Kind, um ein „lästiges Herumtragen“ zu vermeiden. Nachts sollte das Baby vom ersten Tag an allein bleiben, am besten in einem schallisolierten Raum. Eiserne Konsequenz sollte für die Härten des Lebens stählen. Tagebücher aus dieser Zeit zeigen: Der elterliche Impuls, sich seines Babys liebevoll anzunehmen, wurde durch derlei Vorgaben allzuoft erfolgreich unterdrückt.

Ein Phänomen, das lange nachwirkte: Die Jahre der Aufruhr kamen erst in den 70-ern – mit der komplett antiautoritären Erziehung als Gegenpol. Der Wandel schlug sich in den Tagebüchern nieder, in denen es jetzt darum ging, ein Baby auf seinem Weg „zu begleiten“ und nicht mehr darum, mit allen Mitteln seinen Willen zu brechen. Noch heute aber empfehlen einige Großeltern, das Enkelchen nachts doch schreien zu lassen, und so manche ältere Hebamme legt viel Wert darauf, das Kind doch möglichst rasch an feste Stillzeiten zu gewöhnen.

Das Buch liefert eine Beschreibung, keine Bewertung der Erziehungspädagogik des vergangenen Jahrhunderts. Dennoch – und das ist vielleicht das Wichtigste: Dass gezeigt wird, wie rasch und stark sich die in der Ratgeberliteratur und von Experten verbreiteten Ansichten und Überzeugungen ändern, relativiert ihre Bedeutung immens. Auf diese Weise regt das sachlich und fundiert geschriebene Buch dazu an, öfter mal einen Ratgeber im Laden liegen zu lassen und auszuschalten, wenn wieder mal eine Super-Nanny im TV Erziehungsnormen offeriert.

Miriam Gebhardt ist Historikerin und Journalistin, sie lehrt an der Universität Konstanz als Privat-Dozentin. Ihr Buch schließt sie mit den Worten: „Wer heute wieder lauthals fordert, Fachleute sollten sich in die Familienerziehung einmischen und möglichst verbindliche Regeln zur Erziehung und Ernährung unters Volk bringen (Elternführerschein),…, der muss sich gefallen lassen, dass man ihn zu dem Wort wieder befragt; dass man an die Vergangenheit erinnert – an all die Ratgeberpäpste und -päpstinnen, die dazu beigetragen haben, dass den deutschen Eltern angst und bange wurde vor ihrem kindlichen Tyrannen.“

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