Sammelband: Familiensozialisation seit 1933

Miriam Gebhardt / Clemens Wischermann (Hg.)
Familiensozialisation seit 1933 – Verhandlungen über Kontinuität
Franz Steiner Verlag
2007. 211 Seiten. Geb., 54,–
ISBN 978-3-515-08827-5

familiensozialisationErziehungskatastrophe, Pisa-Schock, Kindsverwahrlosung – der Hinweis auf die mangelnde Sozialisationskompetenz der Familie erklärt momentan fast alles. Auch bei den Rezepten, ob „Elternführerschein“ oder ärztliche Pflichtuntersuchung aller Kinder, wird so getan, als stünde die deutsche Familie außerhalb jedes zeitgeschichtlichen Kontextes, als könne jede Generation in ihren Vorstellungen von Erziehung und Weitergabe jederzeit bei Null beginnen.

Der Sammelband stellt ein Bild historischer Kontinuitätslinien dagegen, die vor das Umbruchsjahr 1945 zurück reichen. Dabei geht es um Fragen nach der Qualität von Generationenbeziehungen, nach den Möglichkeiten des Lernens zwischen den Generationen durch Erinnerung und Dialog und nach den körperlichen und mentalen Spuren, die ein Aufwachsen unter den besonderen Sozialisationsbedingungen des 20. Jahrhundert hinterlassen hat.

Aus dem Inhalt:

Ambivalente Generationenbeziehungen:

  • Kurt Lüscher: Facetten von Sozialisation: Generationenlernen und Ambivalenz
  • Gudrun Brockhaus: Lockung und Drohung – die Mutterrolle in zwei Ratgebern der NS-Zeit

Transfer und Lernprozesse:

  • Markus Höffer-Mehlmer: Sozialisation und Erziehungsratschlag. Elternratgeber nach 1945
  • Miriam Gebhardt: Haarer meets Spock – frühkindliche Erziehung und gesellschaftlicher Wandel seit 1933

Erinnerung und Dialog:

  • Lu Seegers: Vaterlosigkeit als Kriegserfahrung: Eine „vergessene“ Form der Familiensozialisation
  • Andreas Kraft: Dialog und Delegation in der Vaterliteratur der 68er

Körpergenerationen:

  • Ulf Preuss-Lausitz: Körpersozialisation im 20. Jahrhundert als Teil gesellschaftlicher Demokratisierung?
  • Heinz Walter / Eva Rass: ADHS/HKS oder zweifach blockierte Weitergabe

Familie und Selbstsozialisation:

  • Andreas Lange: Von der Fremd- zur Selbstsozialisation? Chancen und Risiken der Entgrenzung von Kultur und Ökonomie für Kinder und Jugendliche seit 1960

„Herrliches Gegengift“

Michael Schikowski von „Immer schön sachlich“ hat unter dem Titel „Das Führerprinzip und die Laisierung der natürlichen Experten“ eine Kurzrezension von „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“ veröffentlicht. Die historische Perspektive sei ein „herrliches Gegengift“ zur verbreiteten Tyrannenthese der Experten:

„Wenn die Geschichte der Erziehung als die Geschichte der Kinder als Tyrannen erzählt wird, dann ist die relativierende Wirkung auf feste Überzeugungen enorm, denn Geschichte impliziert Veränderung. Als kulturelle Konstruktion kann aber eine Wesensbestimmung des Kindes als kleiner Tyrann nicht aufrecht erhalten werden.“

„Entscheidend ist das Menschenbild“

Bericht von Gero Fischer vom Podiumsgespräch mit Gesine Schwan (Foto links: Frans Huegel) auf der Frankfurter Buchmesse:
„Das Buch führt uns ein in den Zusammenhang zwischen der Art wie wir Erziehung und Bildung verstehen, und der Art wie wir die Gesellschaft und Politik im allgemeinen verstehen“, so Gesine Schwan. Dabei rehabilitiere es den Begriff des Menschenbildes. „Die Frage, ob ich andere Menschen als Freunde oder Feinde begreife, ist eine fundamentale.“

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vorwärts: “Sind Kinder keine Menschen?”

Mithuy Sanyal hat auf vorwaerts.de eine erste Rezension des Buches veröffentlicht: „Gestützt auf Klassiker der Erziehungsliteratur, vor allem aber auf Elterntagebücher aus vier Generationen zeichnet Gebhardt die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen und individuellen Erziehungsstrategien bis heute nach. Mit diesem Buch hat sie eine Mentalitätsgeschichte Deutschlands geschrieben. Denn wie eine Gesellschaft auf ihre Kinder blickt, so blickt sie auf sich selbst.“

Erziehung und Angst – eine Geschichte der elterlichen Verunsicherung

Miriam Gebhardt untersucht die Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert und stellt fest, dass Ärzte, Erzieher und Eltern stets getrieben waren von der Furcht vor dem kleinen Haustyrannen. Bis in die sechziger Jahre warnte man Väter und Mütter eindringlich vor zu viel Verständnis und Zärtlichkeit gegenüber ihrem Nachwuchs. Es galt die strenge Parole: Kinder nicht küssen!

Deutsche Eltern im 20. Jahrhundert waren hin- und hergerissen zwischen Norm und Liebe, zwischen Strenge und Verständnis. Von allen Seiten stürmten Ratschläge und Warnungen auf sie ein, man solle sich nur ja nicht von den Bedürfnissen des Kindes gängeln lassen. Es galt, ein wildes Wesen zu zähmen. Wissenschaftler, Ärzte und Hebammen waren sich einig – gefordert wurde eiserne Konsequenz beim Einhalten der Schlaf- und Essrhythmen, wenig Körperkontakt und kein Mitleid. Nur so würde der Nachwuchs für die Härten des Lebens gerüstet.

Miriam Gebhardt untersucht die Geschichte der Früherziehung im 20. Jahrhundert und widmet sich Fragen, die heute noch brandaktuell sind. Denn nach wie vor erhitzt kaum eine Debatte die Gemüter mehr als jene darüüber, wie man den Nachwuchs am besten auf das Leben vorbereitet.

Ein tiefer Blick in die Geschichte der Erziehung in Deutschland: Nicht erst seit Bueb und Winterhoff erhitzen Erziehungsfragen die Gemüter.