OE 1, 29.7.2010

Sachbuch
Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen
Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert

Dürfen Kinder im Bett der Eltern schlafen, ist Chinesisch Lernen mit vier schon zu spät? Wie es dazu kam, dass wir uns heute in Erziehungssachen nicht mehr auskennen, steht in Miriam Gebhardts Buch „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“.

Unsere kleinen Haustyrannen

Glaubt man populären Fernsehserien, Illustriertenberichten und aktuellen Sachbüchern, dann ist der Befund ernüchternd: Unsere Kinder sind schrecklich, sind Zombies, Haustyrannen, Despoten, „Bonsai-Terroristen“. Sie sind aufmüpfig, aggressiv und egoistisch. Mit den Prinzipien der antiautoritären Erziehung jedenfalls kommt man da nicht weiter. Disziplin und Strenge lauten die Gebote der Stunde.

Aber ist der Nachwuchs heute tatsächlich so viel aufsässiger als früher? Sind die Kinder tatsächlich lauter – oder die Erwachsenen nur geräuschempfindlicher geworden? Ist der, der seine Grenzen auslotet, tyrannischer als der, der alles regeln und kontrollieren will? Die Historikerin Miriam Gebhardt hat ihre Zweifel.

„Man muss sich einmal fragen, was hinter dem Begriff der kindlichen Tyrannei eigentlich steckt“, sagt Gebhardt. „Und ich denke, da steckt vor allem die Angst vor den kindlichen Bedürfnissen – dass die überhand nehmen. Da kann man Parallelen finden in unserer Erwachsenenwelt, nämlich, wie sehr auch wir uns derzeit gehalten fühlen, unsere eigenen Bedürfnisse zu disziplinieren, wenn man zum Beispiel an das Rauchverbot denkt und die ganze Gesundheitspolitik oder die Disziplin in der Arbeitswelt. Wir alle sind ja sehr stark damit beschäftigt, unsere Bedürfnisse in Zaum zu halten und zu disziplinieren. Dies scheint nun auch das Mittel der Wahl zu sein bei Kindern.“

Historie der Erziehung

Miriam Gebhardt beginnt ihr Buch „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert“ mit einem sich aufdrängenden Verdacht: „Eltern scheinen sich nicht nur um ihr Kind zu ängstigen, sondern auch vor ihrem Kind“. In ihrem Werk versucht die Autorin, Paradigmen und Grundmotive der frühkindlichen Pädagogik herauszuarbeiten und das Verhältnis von Alltagspraxis und Expertenwissen in der Geschichte der Erziehung in Deutschland zu beleuchten.

„Das ist keine lineare Geschichte und keine Fortschrittsgeschichte“, sagt Gebhardt. „Mich hat sehr überrascht, dass in der Kaiserzeit und im frühen 20. Jahrhundert im Bürgertum eigentlich noch eine etwas gelassenere Haltung der Kindererziehung gegenüber eingenommen wurde als das später der Fall war.“

„Unser Bild ist eher von der schwarzen Pädagogik geprägt“, so Gebhardt. „Es gibt jetzt auch den Film ‚Das weiße Band‘ von Haneke, in dem noch mal die These aufgestellt wird, dass durch die brutalen, demütigenden Erziehungsstile in der Kaiserzeit so eine Art deutscher Charakter geformt wurde, der womöglich dann in den Nationalsozialismus geführt hat. Und meine Ergebnisse sind da eigentlich etwas anders: dass diese strenge und starre Erziehung auch ein Gutes hatte, nämlich dass die Eltern dadurch gezwungen waren, sehr genau auf ihre Kinder hinzuschauen, weil sie mussten sie ja beobachten und die Entwicklung genau im Auge behalten. Und dass womöglich durch dieses genaue Hinschauen auch mehr Intimität entstanden ist.“

Drei Sozialisationsmuster

Miriam Gebhardt sieht in der Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert drei Phasen bzw. drei „dominante Sozialisationsmuster“, die sie „das beobachtete Kind“, „das kontrollierte Kind“ und „das eigene Kind“ nennt.

Bedingt durch die hohe Säuglingssterblichkeit, rückten Ende des 19. Jahrhunderts Neugeborene zunehmend in den Fokus der Medizin und Kinderheilkunde. Durchaus mit Erfolg. Doch es blieb nicht bei medizinischer Hilfe. Ärzte formulierten strikte Erziehungsziele: Regelmäßigkeit bei Schlaf- und Wachzeiten, bei Ernährung und Ausscheidung, Reizvermeidung und Körperdisziplin.

„Das war sozusagen das Einfallstor in die Familien, weil man dann auch der Meinung war, Mütter können nicht von Natur oder von Tradition aus richtig erziehen“, erzählt Gebhardt, „sondern die Kinderärzte postulierten diese Forderung, dass Mütter sich nicht mehr von ihren Instinkten oder der Tradition leiten lassen dürften, sondern von den Experten geleitet werden müssten.“

Das beobachtete Kind

Ratgeber, Tabellen und Anleitungen zum Ausfüllen zeugen von der Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der frühkindlichen Sozialisation. Aus dem Kind wurde das beobachtete Kind. Der Arzt Adalbert Czerny appellierte an die Eltern, jede allzu liebevolle oder emotionale Zuwendung zu den Kleinen zu unterlassen – „um so wenig als möglich Ansprüche wach zu rufen“, die „Beherrschung des Willens“ zu fördern und „dem Kinde auch gleichzeitig den ersten Begriff der Subordination unter einen Vorgesetzten“ beizubringen. Ärzte wurden mehr und mehr zu Erziehern der Nation – und übten einen großen Druck aus auf die Eltern.

„Wenn die geschrieben haben, dass ein Kind, wenn es weint, keine Gefühle hat“, sagt Gebhardt, „dass Kinder überhaupt erst ab einem bestimmten Alter Gefühle haben, wenn sie schreiben, dass Tränen einen nicht von der regelhaften, normierten Säuglingspflege abhalten dürfen, dann hat das tatsächlich einige Jahrzehnte lang die Auswirkung gehabt, dass Mütter zum Beispiel in ihr Tagebuch geschrieben haben, das Kind sieht fast so aus, als wollte es hochgehoben werden, aber das kann ja nicht sein. Also die Expertengläubigkeit war tatsächlich sehr groß.“

Das kontrollierte Kind

Vom beobachteten zum kontrollierten Kind war es nur ein kleiner Schritt. In den 1930er Jahren nahm die Zahl der Ratgeber und Erziehungsleitfäden zu, immer mehr Normen wurden formuliert. Das Expertenwissen lief der Alltagspraxis den Rang ab. Und neue Begriffe kamen in Mode: Erbgesundheit, Volksgemeinschaft, Lebensbemeisterung. Das Kind galt es schon früh auf die Härten des Lebens vorzubereiten.

Das meinte auch Johanna Haarer, die mit ihrem Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ reüssierte, das 1934 erstmals erschien, bis 1987 auf dem Markt war und sich über eine Million Mal verkaufte. Die Autorin war eine überzeugte Nationalsozialistin, ihre Erziehungsmaximen freilich – Gehorsam, Affektkontrolle und Disziplin, Strafe und Abhärtung – waren nicht speziell nationalsozialistisch, sondern lange vor und nach der Nazidiktatur beliebt. Auch für Haarer war jedes Kind ein potenzieller Tyrann, den es zu bekämpfen galt.

Das eigene Kind

Für ein neues, kinderfreundlicheres Erziehungsideal bedurfte es erst eines neuen Menschenbilds, das dem der klassischen Psychoanalyse, das jedem Menschen ein aggressives Triebpotential unterstellte, zuwiderlief. Ein solches etablierte sich zuerst in den USA. „The Common Sense Book Of Baby And Child Care“ hieß eine neue, ungeheuer populäre und für mehr Freizügigkeit plädierende Erziehungsfibel, ihr Autor war ein gewisser Dr. Spock.

„Also Spock hat auf jeden Fall diese Idee aufgebrochen, dass es nur eine richtige Art und Weise geben kann, wie Eltern ihre Kinder behandeln“, sagt Gebhardt. „Sie hat im Grunde den Eltern Mut zugerufen und ihnen empfohlen, auch mal nach dem eigenen Gefühl zu handeln und vor allen Dingen nicht darüber zu erschrecken, wenn man mal inkonsequent war.“

Benjamin Spock läutete das Ende der bedingungslosen Expertengläubigkeit ein. Eltern sollten weniger dem gedruckten Wort, als ihrer Intuition vertrauen. Der Säugling wurde nun nicht länger als autistisches, gefühlloses Wesen betrachtet, sondern als umweltoffenes und emotionales. Körperkontakt, Kindzentrierung, Bindungstheorie hießen die Schlagworte. Aus dem „kontrollierten“ wurde das „eigene Kind“.

„Das ist auf jeden Fall so, dass sich nach 1945 auch deshalb etwas geändert hat bei den Erziehungsstilen, weil sich die Wirtschaftsformen verändert haben – hin zur Dienstleistungs- und Konsumwirtschaft“, erklärt Gebhardt. „Dass da eben gesellschaftlich auch ein anderer Mensch gebraucht wird als vorher. Das war eben ein Mensch, der seine Bedürfnisse wahrnimmt, ausdrückt und dann auch auslebt. Und nicht ein selbstdisziplinierter, kontrollierter Mensch, der fünfmal nachdenkt, bevor er konsumiert.“

Verspätetes Umdenken

In Deutschland freilich wurden die Vorstellungen von Benjamin Spock mit zwanzigjähriger Verspätung rezipiert. In der Zeit von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder herrschte der Johanna-Haarer-Erziehungsdrill, auf pädagogische Alternativen verschwendete man keine Zeit. Dass es schließlich doch zu einem Umdenken kam, ist kein Verdienst der 68er. Die nämlich, so Miriam Gebhardt, waren Anhänger der klassischen Psychoanalyse – und betrachteten das Kind als triebgesteuert und narzisstisch.
Und heute? Heute mehren sich die Anzeichen für eine Renaissance des „kontrollierten Kindes“.

„Ich will gar nicht abstreiten“, sagt Gebhardt, „dass in dieser psychologisierten Welt, in der Eltern sich ganz stark versuchen im Kind und durch das Kind zu verwirklichen – dass es in dieser Welt Schwierigkeiten gibt mit Kindern, die Erwachsenen auf die Nerven gehen. Andererseits muss man auch sehen, dass das Leben der Erwachsenen immer strukturierter und reglementierter geworden ist und dass schon auf Grund dieser Tatsache Kinder immer mehr als störend wahrgenommen werden. Aber man muss sich fragen, mit welchem Menschenbild haben wir es eigentlich zu tun? Geht es wirklich nur darum, dass sich ein Kind gut in den Erwachsenenarbeitsalltag einfügt? Dass Kinder frühzeitig lernen müssen sich ihre Bedürfnisse nach Lustempfinden, nach Persönlichkeitsentfaltung abzugewöhnen? Das fände ich traurig.“

Zur aktuellen Erziehungsdebatte

Miriam Gebhardts Arbeit, die vor allem auf der Auswertung von Elterntagebüchern und Erziehungsratgebern basiert und letztere in einem durchaus kritischen Licht erscheinen lässt, verraten sie doch mehr über das Weltbild einer Gesellschaft als über deren Sorge um den Nachwuchs – diese Arbeit ist nicht als Reaktion auf die aktuelle Erziehungsdebatte entstanden. Sie ist eine Habilitationsschrift.

Dennoch liefert dieses, bei allem Fußnotenfleiß und Zitiereifer flüssig geschriebene, gut lesbare und differenziert argumentierende Buch viel Aufschlussreiches zu dieser Debatte. Dies nicht zuletzt weil es deutlich macht, wie alt und erschreckend zählebig die Vorstellung von der Erziehung als Machtprobe und vom Kind als Widersacher, als Störenfried, als kleinem Tyrann, den es zu bändigen gilt, doch ist.

Text: Wolfgang Seibel · 29.07.2010

Deutschlandfunk, 13.8. 10.10-11.30 Uhr:

Deutschlandfunk: Lebenszeit am
am 13.08. 2010, 10.10 Uhr-11.30 Uhr
WENN AUS PAPA „JÜRGEN“ WIRD
Wie sich das Eltern-Kind-Verhältnis verändert hat
Team: Judith Grümmer und Bettina Schmieding (Mod.)

Pressetext:
Er sei ein Freund seiner Kinder, aber dennoch sei Abstand wichtig. Und deshalb werde er von ihnen gesiezt. Mit dieser Aussage sorgte Bayerntrainer van Gaal im letzten Jahr für heftiges Rauschen im Zeitungsblätterwald. Da lässt sich ein Vater Siezen, während sich ein anderer fast kumpelhaft mit Vornamen anreden lässt. Da wartet eine junge Mutter sehnsüchtig auf das erste „Mama“ aus dem Kindermund, während die andere mit dem Nachwuchs beharrlich ihren Vornamen übt.

Was ist los mit dem familiären Rollenverständnis? „Kinder sind keine Partner“, sagt der Bonner Psychiater Michael Winterhoff. Also ist Papa eben Papa und nicht Jürgen? Kinder seien keine Gefährten, betont der Bestsellerautor. Wer das nicht verstehe, riskiere, dass Kinder und Erwachsene krank werden und sich gegenseitig hassen. Die Kinder brauchen für ihre psychische Gesundheit und soziale Kompetenz von ihren Eltern ein klares Gegenüber, fordert Winterhoff.

„Mein Vater legte Wert darauf, dass ich ihn beim Vornamen nannte“, erinnert sich die Historikerin Dr. Miriam Gebhardt. Sie hat eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert geschrieben und weiß, wie sich die Binnenverhältnisse in den Familien gewandelt haben. Und sie findet die Warnung vor dem kindlichen Tyrannen erstaunlich.

„Gerade Kinder in Patchwork-Familien tun sich schwer, den „neuen“ Vater Papa zu nennen“, weiß Marie-Luise Lewicki, Chefredakteurin von „Eltern“ und lenkt den Blick auf die Vielfalt heutiger Familienstrukturen im In- und Ausland. Verhelfen Vornamen hier zu klareren Verhältnissen und zur Klärung, wer der Erwachsene und wer das zu erziehende Kind ist?

Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern hat sich verändert. Und anhand dieser Veränderungen lässt sich viel über die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte sagen.

Diskutieren Sie mit: In der Lebenszeit von 10.10 bis 11.30 Uhr unter der kostenfreien Telefonnummer 00800-44 64 44 64

Gäste:
Dr. Miriam Gebhardt, Historikerin
Marie-Luise Lewicki, Chefredakteurin „Eltern“
Michael Winterhoff, Psychiater und Bestsellerautor

H-Soz-u-Kult Rezension von Nina Mackert, Uni Erfurt

http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=14079&count=3438&recno=12&type=rezbuecher&sort=datum&order=down&region=26
In ihrer Studie „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“ untersucht Miriam Gebhardt die sich wandelnden Vorstellungen frühkindlicher Sozialisation, ihre Weitergabe und Umsetzung von Expert/innen an Eltern und innerhalb von Familien im 20. Jahrhundert. Die Arbeit kreist um drei Fragekomplexe, die ich in dieser Rezension hervorheben möchte: Transfer von Wissen, Konzepte von Generation und ein historischer Zugriff auf Handlungsfähigkeit. Dabei setzt sich Gebhardt mit den Schnittstellen von Wissen und Handeln auseinander und ordnet sich implizit in das umkämpfte Terrain ein, auf dem nach dem ‚Eigensinn’ historischer Akteur/innen gesucht wird.

Die Autorin untersucht und analysiert zentrale Ratgebertexte und fragt, „wie das Wissen der Fachleute, der Kinderärzte, Psychologen und Pädagogen, in subjektives Wissen ‚übersetzt’ wurde“ (S. 17). Erziehungswissen wird nach Gebhardt „sowohl bewusst eingeholt als auch vorbewusst durch sozial Erlerntes innerhalb und außerhalb der Familie übernommen“ (S. 16). Aber familiäres Erziehungswissen fließt auch wieder ein in neues Expertenwissen. Gebhardt verortet diese Bewegung unter anderem in ihren zentralen Quellen – den Tagebüchern, in denen Eltern über das Aufwachsen ihrer Kinder, über Erziehungs- und Pflegepraktiken und bisweilen auch über ihre elterlichen Gefühle berichtet haben. Das Elterntagebuch ist für Gebhardt ein Genre, „an dem sich Diskurs und Praxis idealtypisch verschränken“ und damit ein „Ensemble von Schreibregeln und Sozialisationsnormen“ entsteht (S. 25). Eng damit verbunden ist die Frage der Handlungsfähigkeit von Eltern: „[W]as haben Mutter und Vater aus den vorhandenen Optionen ausgewählt, und wann bestand in der Weitergabesituation zwischen den Generationen die Möglichkeit, aus den vorgebahnten Phasen auszuscheren?“ (S. 16) Die Phasen waren nicht nur durch Expertinnenwissen strukturiert, sondern auch durch die Generationenfolge. Über ihre Untersuchung der Rolle der Generationen bei der Weitergabe von Erziehungswissen möchte die Autorin Konzepte von Generationen als „Abfolge von Einheiten“ hinterfragen, „in der jede [Generation] für sich wie eine Insel im Ozean der Zeit schwimmt“ (S. 12).

Gebhardt setzt historisch spezifisches Erziehungswissen in Bezug zu Aufzeichnungen in etwa 60 Elterntagebüchern aus dem gesamten 20. Jahrhundert. Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut und unterscheidet drei zentrale Phasen: „Das beobachtete Kind“, „Das kontrollierte Kind“ und „Das eigene Kind“.

Während in der „Vorgeschichte“ zu Gebhardts Untersuchungszeitraum eher ein intellektuelles Interesse an Gesetzmäßigkeiten das Forschen zu frühkindlicher Sozialisation bestimmt hat, wurde im Zuge des auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts stärker das ‚reale’ Kind in den Blick genommen. Ausgehend vom Gedanken, Kindheit zeige ein früheres Evolutionsstadium, wurde sie beobachtet und gemessen.

Für die zweite Phase identifiziert Gebhardt eine starke „sozialtechnische“ Nutzung der Elterntagebücher: Vor dem Hintergrund der hohen Säuglingssterblichkeit wurden Eltern über die Tagebücher kontrolliert und mussten einen strengen Zeitplan in der Säuglingspflege einhalten: Es gab nicht nur minutiös festgelegte Essens- und Schlafpläne, sondern auch „Schreizeiten“; Schreien galt nicht als emotionale Äußerung, sondern als eine Art instinktives Muskeltraining; das Kind wurde als prinzipiell passiv und gefühllos charakterisiert.

In dieser langen zweiten Phase, die laut Gebhardt bis in die 1960er-Jahre reichte, entwickelte sich die Vorstellung des „kindlichen Tyrannen“, der die elterliche Autorität bedrohe. Die Ratgeber suggerierten den Eltern, dass sie jederzeit vor dem Versagen stünden – und das kindliche Verhalten schien das zu bestätigen. In diesem Teil untersucht Gebhardt auch die Frage der Kontinuität von Vorstellungen frühkindlicher Sozialisation im Nationalsozialismus. Sie analysiert hier eine intensivere Ausprägung des psychologisch-medizinischen Wissens, das aber mit antirationalem Duktus vermittelt wurde. Zudem entdeckt sie eine „zunehmende Empfänglichkeit, man könnte auch sagen: Schwäche“ (S. 91) der Eltern gegenüber der Expertise.

Generell stand in dieser zweiten Phase als Sozialisationsziel die „Lebensbemeisterung“ im Vordergrund, also die Gewöhnung an die Härten des Lebens. Dass in der dritten Phase hingegen die Fähigkeit zur „Lebensgestaltung“ das primäre Erziehungsziel wurde, lag laut Gebhardt paradoxerweise genau in der massiven elterlichen Kontrolle und Abhärtung der Babies in der zweiten Phase begründet: „Das frühe Kontrollieren-Müssen stieß die besorgten Eltern geradezu auf ihr Kind. Dabei wurden sie notgedrungen auch aufmerksamer für dessen Bedürfnisse. […] Irgendwann ließ sich im engen Kontakt mit den Kindern die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse nicht mehr vermeiden.“ (S. 236f.) Ohne dass das Erziehungswissen es schon zu ‚erlauben’ schien, ist die Nähe der Eltern zu ihren Kindern in der Nachkriegszeit gewachsen. Später tauchten dann Konzepte von „Mutterliebe“ in Ratgebern auf. Das Kind wurde vor dem Hintergrund eines neuen Menschenbildes zum Interaktionspartner der Eltern. Diese dritte Phase ist laut Gebhardt von einer Ausdifferenzierung elterlicher Handlungsmöglichkeiten geprägt; Expert/innenanweisungen wurden zunehmend in Frage gestellt.

Übergeordnet fragt Gebhardt nach einem „spezifisch deutschen Erbe“ in der Frage der frühkindlichen Sozialisation. Ob sie die Frage bejaht oder verneint, darin scheinen sich bisherige Rezensenten uneins zu sein.[1] Gebhardt weist darauf hin, dass die kinderzentrierte Entwicklung Deutschland viel später erreicht habe als die USA, betont aber auch, dass nicht von einer „Erziehung zum Untertan“ gesprochen werden könne. Zudem schildert sie in einem Kapitel zum DDR-Erziehungswissen, wie sich hier Konzepte von Kindheit und Elternschaft von denen in der Bundesrepublik unterschieden, nicht zuletzt durch differierende Geschlechterbilder.

Die Studie ist flüssig geschrieben und bietet nach einer gewissen Eingewöhnungsphase auch eine gute Leser/innenführung. Dass dieses Buch nicht nur für Wissenschaftler/innen lesbar ist, erscheint bedeutsam, weil Gebhardt aktuelle Rufe nach mehr Disziplin explizit in ihre Geschichte des Erziehungswissens einordnet. Sie begleitet ihre Analyse mit inspirierenden Beobachtungen über Änderungen in Form und Gestaltung der Elterntagebücher; die Verbindung von Expertenwissen und Elternhandeln macht sie sehr anschaulich.

Im Gegensatz zu ihren umsichtig formulierten programmatischen Anmerkungen in der Einleitung bleiben bei der Analyse der Fallbeispiele leider einige Unklarheiten bezüglich ihrer Konzepte von Generation, Diskurs und Normen, die zentral die Frage der Handlungsfähigkeit betreffen. So identifiziert Gebhardt beispielsweise einen „time lag“, also ein zeitlich verzögertes Ankommen des wissenschaftlichen „Normalisierungsschubes“ der Jahrhundertwende bei den Eltern, den sie damit erklärt, dass Expertenwissen und generationenspezifische Erziehungstraditionen kollidierten. Ihre Schlussfolgerung, der „gesellschaftliche Vorstellungswandel musste offenbar mit intergenerationellen Auseinandersetzungen erkauft werden“ (S. 155), bleibt dem von eben jenen Expert/innen kodierten Konzept von Generationen als altersmäßig strukturierten Entitäten verpflichtet. Statt Teil von Diskursen zu sein, erscheinen Generationen bei Gebhardt als unabhängige Deutungsmuster, die in einem unklaren Verhältnis zu Diskursen stehen (letztere setzt Gebhardt einstweilen synonym mit „intellektuelle[n] Moden“ [S. 37]).

Gleichzeitig begreift Gebhardt Expertise eher als Bevormundung und kaum als produktiven Prozess. Daher geraten Normen besonders dann in ihr Blickfeld, wenn von Kontrolle und Druck die Rede ist: Die stärkere Selbstreflexivität der Eltern, die sie für den Zeitraum ab 1970 analysiert, erscheint bei ihr weniger als Erziehungsnorm und mehr als Emanzipation von Normen der Erziehung und einer„Eigenständigkeit der Mutter gegenüber der […] Expertise“ (S. 188). So gerät ihre Darstellung bisweilen doch zur Fortschrittsgeschichte, obwohl Gebhardt dies explizit vermeiden möchte. Wenn sie für die 1970er-Jahre von „abstrakten Prinzipien“ spricht, „für die sich die Eltern bewusst entschieden hatten“ (S. 198), begreift sie Eltern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zunehmend rationaler, selbstreflexiver und handlungsfähiger, problematisiert aber zu wenig den normativen Charakter eben dieser Handlungsfähigkeit. Äußerst spannend ist Gebhardts These, dass sich „das Verhalten der Säuglinge und Kleinkinder wirklich verändert hat“ (S. 117) und sich „der kindliche Körper“ als Reaktion auf „die zugespitzte Normierung und Erziehungswut“ (S. 118) gewehrt habe. Leider gerät die Erörterung dieser These sehr kurz, und Gebhardt ruft eher die Vorstellung ahistorischer, kindlicher „Bedürfnisse“ auf, die sie als konträr zu Sozialisationsmustern begreift.

Gleichwohl ist der Ansatz originell und wichtig. Miriam Gebhardts Studie liefert ein Beispiel dafür, dass ein neuer Blick auf Gesellschaft möglich ist, wenn scheinbar ‚private’, ‚natürliche’ Praktiken auf ihre gesellschaftliche Konstituiertheit befragt werden. Mit den Elterntagebüchern hat Gebhardt eine neue, aufschlussreiche Quellengattung entdeckt, die hoffentlich weitere Forschungsarbeiten anregt.

Anmerkung:
[1] Siehe die Rezensionen von Jürgen Nielsen-Sikora, in: Das Historisch-Politische Buch 57 (2009), S. 331f., und Heinz-Elmar Tenorth, Wer ist der wahre Zwingherr? Wickeln und kontrollieren: Miriam Gebhardt erkennt in der „Angst vor dem kindlichen Tyrannen“ die Tyrannei der Experten, in: Süddeutsche Zeitung, 21.12.2009, S. 12.
ZitierweiseNina Mackert: Rezension zu: Gebhardt, Miriam: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert. München 2009, in: H-Soz-u-Kult, 30.04.2010, .

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„wärst du bloß nicht so süß…“ wdr 5, 27.4.10, 2stündige Sendung

Väter, die sich um die Essgewohnheiten ihres Nachwuchses kümmern, um Gewichtszunahme und Verdauung, werden zumeist als Ausnahmeerscheinung gefeiert. Dabei galt genau diesen Beobachtungen Ende des 19. Jahrhundert größte Aufmerksamkeit, da die Säuglingssterblichkeit hoch war.
Was Eltern in Tagebüchern über die Entwicklung ihrer Sprößlinge festhalten, gibt Auskunft über die sozialen Bedingungen. Aber auch darüber, wie sich Erziehungstile fortsetzen, wie die Nähe zum Nachwuchs gestaltet werden kann. http://www.wdr5.de/sendungen/neugier-genuegt/s/d/27.04.2010-10.05/b/waerst-du-bloss-nicht-so-suess.html

kurz und knapp – 3 Minuten mdr

Jesper Juul: Pubertät – Wenn Erziehung nicht mehr geht

Richtig oder falsch – das gibt es bei Jesper Juul nicht, wenn er über Erziehung schreibt, wie er es seit Jahren tut. Der Däne ist Lehrer, Konfliktberater, Vater und gilt auch als innovativster Familientherapeut Europas. Verantwortung ist ein zentraler Begriff bei Jesper Juul. Er plädiert dafür, den Kindern Verantwortung für sich selbst zuzugestehen. Traditionell üben Erwachsene für vieles Verantwortung aus, Mama und Papa wissen schon, was gut ist. Jesper Juul ermutigt Eltern, loszulassen, aber da zu sein. Wer Jesper Juul von anderen Schriften her kennt, erlebt es in diesem Buch auch wieder: er vertraut auf die Ressourcen in den Eltern-Kind-Beziehungen und nimmt uns mit, sie zu entdecken.
Karin Jäckel: Störfall Schule

Es ist eine Zumutung. Mit jedem Satz, jedem Kapitel steigt das Erregungspotenzial: Traurigkeit, Empörung, Zustimmung, Ungeduld – nach gut 300 Seiten weiß der Leser, der es eh schon wusste, dass es so nicht weitergehen kann , aber wird – mit dieser Art von Schule, die Kinder beschädigt, Lehrer krank macht und Eltern hilflos. Dabei hat die Autorin nichts Spektakuläres aufgeschrieben. Sie erzählt die Geschichte des deutschen Bildungswesens, geht weit zurück, noch vor Luther und der Idee von einer Schule für alle. Sehr verdichtet, sehr zugespitzt und immer im historischen, politischen, soziokulturellen Kontext eingebunden, trägt sie zusammen, was an Daten und Fakten längst bekannt ist. Daraus knüpft sie ein feines Beziehungsgefüge: Familienpolitik, die Rolle der Mütter und Väter, die Entwurzelung der Kinder, gespiegelt im Schul- und Bildungssystem. Und wie eins mit dem andern verwoben ist und wie Politik im Ideologischen verfangen ist und sich Zwängen beugt und daraus der Störfall Schule wird.
Miriam Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen

Wer sich noch etwas intensiver einlassen will, etwas spezieller und etwas differenzierter erfahren will, wie im 20. Jahrhundert Kindsein geprägt war, wird bei Miriam Gebhardt fündig. Erziehungsmodelle, Erziehungsstile im Wandel von Strenge und Hörigkeit zu Vertrauen und Verständnis, dazwischen Zeiten der Nicht-Erziehung. In all diesen Ideen spiegelt sich das Verhältnis der Gesellschaft zum Kind wider. Wie eine Gesellschaft auf das Kind blickt, schreibt Gebhardt, so blickt sie auf sich selbst. Hochaktuell angesichts der Missbrauchs-Erfahrungen vieler Generationen. Kindheitsforschung ist eine noch junge Wissenschaftsdisziplin, Gebhardt muss deswegen nah ran an Originalquellen. Besonders emotional wird das sehr verdichtet geschriebene Buch, wenn sie aus Elterntagebüchern zitiert – eine wahre Fundgrube. Und dem Leser drängt sich die Frage auf, wie selbstbestimmt wir eigentlich sind in unserer Auffassung von Erziehung.

Sandammeer – virtuelle Literaturzeitschrift

Wie bereitet man den Nachwuchs am besten auf das Leben vor?

Nichts erst seit Michael Winterhoffs Erziehungserfolgstiteln „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ und „Tyrannen müssen nicht sein“ ist sowohl in der Pädagogik als auch in der Ratgeberlandschaft für Eltern und Erziehende ein regelrechter Kulturkampf über die richtige Erziehung ausgebrochen. Verunsicherte Eltern und Erzieher, leidende Kinder ohne Vorbilder und Grenzen – die Zukunft wird schwarz gemalt, wenn, ja wenn nicht endlich Eltern Schluss damit machen, sich von den Bedürfnissen und den Ansprüchen ihrer Kinder bestimmen und gängeln zu lassen.

Die Thesen Winterhoffs und auch die von Bernhard Bueb eröffnete neue Debatte über die dringend notwendige Renaissance der Disziplin (vgl. sein Buch „Lob der Disziplin“) sind heftig diskutiert worden und haben von vielen Seiten entsprechenden Widerspruch erfahren. Dennoch ist etwas hängen geblieben, worauf die beiden (und auch noch etliche andere Pädagogen und Psychologen) richtig hinweisen: Es ist in den letzten Jahrzehnten, etwa seit die Thesen der studentischen Protestbewegung in die Gesellschaft einsickerten, in der Erziehung unserer Kinder etwas grundlegend schiefgelaufen.

Im aktuellen und wohl auch noch lange nicht abgeschlossenen Streit um diese Thesen hilft das vorliegende Buch der Historikerin und Journalistin Miriam Gebhardt außerordentlich weiter. Denn sie zeigt mit ihrer Erziehungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass viele der aktuellen Fragestellungen und Auseinandersetzungen durchaus historische Wurzeln haben. Sehr aufschlussreich beschreibt sie, dass etwa seit den frühen 20er-Jahren des 20.Jahrhunderts eine Phalanx aus Ärzten, Hebammen und Wissenschaftlern die jungen Eltern mit Thesen und Ratschlägen konfrontierten, die bei diesen den Druck, alles richtig zu machen, immer weiter anstiegen ließ bis zum heutigen Tag, wo kaum noch ein junger Vater oder eine junge Mutter auf eigene Gefühle und Impulse vertraut, sondern diese mindestens mit Hilfe entsprechender Ratgeber absichern muss, was meistens zu noch größerer Unsicherheit führt, zum erheblichen seelischen und entwicklungspsychologischen Nachteil der Kinder.

Insbesondere die Debatte um die zu setzenden Grenzen, um die nötige Strenge und Disziplin wurzelt im frühen 20. Jahrhundert. Nachdem nun die Kuschelpädagogik der letzten Jahrzehnte ihre klaren Mängel und Defizite gezeigt hat, ist es verführerisch, an alten Konzepten anzuknüpfen. Wie findet man die richtige Balance zwischen Norm und Liebe, zwischen Strenge und Verständnis?

Miriam Gebhardts empfehlenswertes und voller Details steckendes Buch hilft bei der nötigen historischen Einordnung jener wichtigen Debatte und bei der gut begründeten Neuorientierung von Erziehungszielen, die überlieferte Normen und Werte nicht mehr über Bord wirft, aber auch nicht der Versuchung erliegt, im Kind einen Partnerersatz zu sehen und es damit zu überfordern, sondern selbstreflexiv und selbstkritisch mit allen Schwächen und eigenen Fehlern dem Kind ein Vorbild zu sein bzw. es zu werden, an dem es sich orientieren und im Lauf seiner Kindheit, Jugend und Adoleszenz auch hin zu einer eigenen Persönlichkeit abarbeiten kann.

(Winfried Stanzick; 01/2010)
www.sandammeer.at/rez09/kindtyrann.htm

Hamburger Abendblatt, 14.12.2009

Kindererziehung
Das Kleinkind als Tyrann – Wie Ratgeber die Erziehung prägten

Von Annett Klimpel14. Dezember 2009, 02:13 Uhr
Ratgeber, wie ein Kind am besten zu erziehen sei, finden sich in Buchläden zu Hauf. Groß ist oft die elterliche Sorge, bei der frühkindlichen Prägung fatale Fehler zu begehen. Das ist kein neues Phänomen: Seit Jahrzehnten suchen Eltern Rat bei Experten – und bekommen ihn. Wie gruselig und wahnwitzig solche Empfehlungen oft waren, beschreibt Miriam Gebhardt in ihrem Buch „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“.

München. Die Fachjournalistin hat die Geschichte der Kleinkind-Erziehung im 20. Jahrhundert analysiert. Sie hat dafür Standardratgeber und Elterntagebücher aus vier Generationen untersucht, in denen Mütter oder Väter das Miteinander mit ihrem Sprössling beschrieben. Zu den wohlmeinenden Ratschlägen gehörte einst etwa, Säuglinge monatelang möglichst reizarm in einem abgedunkelten Zimmer aufzubewahren. Zärtlichkeiten und Körperkontakt wurden verpönt. Um die Winzlinge zum Durchschlafen zu bringen, galt es als sinnvoll, sie nächtens schreien zu lassen. Das Weinen sei ohnehin nur eine Machtprobe, Emotionen und Empfindungen hätten Babys noch gar nicht, so hieß es.

Was während der Nazi-Zeit in den einschlägigen Werken stand, war dann sogar eher Handlungsanweisung als Ratschlag. Die Mutter wurde angewiesen, sich an Fütterungszeiten zu halten, ihr Kind mit der nötigen Strenge zu erziehen – etwa zum Töpfchengang – und den Nachwuchs nicht mit Zuwendung, Verständnis und Streicheleinheiten zu verzärteln. So entstünden Tyrannen, wurde behauptet. „Ein vernünftig gehaltenes Kind läuft wie ein flinkes blankes Rädchen im Uhrwerk eines wohlgehaltenen Haushaltes mit“, versprach die Autorin eines solchen „Ratgebers“.

Die vorgedruckten Elterntagebücher zu dieser Zeit enthielten Tabellen, in denen die Erfolge bei der Ess-, Toiletten- und Schlaferziehung protokolliert wurden. Da sie mit zu Arztbesuchen genommen wurden, stellten sie ein prima Kontrollinstrument dar. Defizite mütterlicher Kompetenz wurden auch von den Ratgeberautoren massiv herbeigeredet.

Negativ – aus heutiger Sicht – tat sich während der NS-Zeit und in den Jahren danach vor allem eine „Expertin“ hervor: Johanna Haarer mit Werken wie „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Sie empfahl etwa ausdrücklich den Laufstall als Barriere zwischen Mutter und Kind, um ein „lästiges Herumtragen“ zu vermeiden. Nachts sollte das Baby vom ersten Tag an allein bleiben, am besten in einem schallisolierten Raum. Eiserne Konsequenz sollte für die Härten des Lebens stählen. Tagebücher aus dieser Zeit zeigen: Der elterliche Impuls, sich seines Babys liebevoll anzunehmen, wurde durch derlei Vorgaben allzuoft erfolgreich unterdrückt.

Ein Phänomen, das lange nachwirkte: Die Jahre der Aufruhr kamen erst in den 70-ern – mit der komplett antiautoritären Erziehung als Gegenpol. Der Wandel schlug sich in den Tagebüchern nieder, in denen es jetzt darum ging, ein Baby auf seinem Weg „zu begleiten“ und nicht mehr darum, mit allen Mitteln seinen Willen zu brechen. Noch heute aber empfehlen einige Großeltern, das Enkelchen nachts doch schreien zu lassen, und so manche ältere Hebamme legt viel Wert darauf, das Kind doch möglichst rasch an feste Stillzeiten zu gewöhnen.

Das Buch liefert eine Beschreibung, keine Bewertung der Erziehungspädagogik des vergangenen Jahrhunderts. Dennoch – und das ist vielleicht das Wichtigste: Dass gezeigt wird, wie rasch und stark sich die in der Ratgeberliteratur und von Experten verbreiteten Ansichten und Überzeugungen ändern, relativiert ihre Bedeutung immens. Auf diese Weise regt das sachlich und fundiert geschriebene Buch dazu an, öfter mal einen Ratgeber im Laden liegen zu lassen und auszuschalten, wenn wieder mal eine Super-Nanny im TV Erziehungsnormen offeriert.

Miriam Gebhardt ist Historikerin und Journalistin, sie lehrt an der Universität Konstanz als Privat-Dozentin. Ihr Buch schließt sie mit den Worten: „Wer heute wieder lauthals fordert, Fachleute sollten sich in die Familienerziehung einmischen und möglichst verbindliche Regeln zur Erziehung und Ernährung unters Volk bringen (Elternführerschein),…, der muss sich gefallen lassen, dass man ihn zu dem Wort wieder befragt; dass man an die Vergangenheit erinnert – an all die Ratgeberpäpste und -päpstinnen, die dazu beigetragen haben, dass den deutschen Eltern angst und bange wurde vor ihrem kindlichen Tyrannen.“